Was passiert, wenn Du ganz plötzlich 60 bist.
- Sabine Rothländer
- 10. Aug. 2018
- 4 Min. Lesezeit

Überwältigende Erkenntnis.
Es heißt ja, dass Geburtstag zu haben, kein Grund zum Älterwerden ist. Haha. Dass ich nicht lache. Nicht, wenn du 60 wirst. Ein grober Kassensturz sagt dir knallhart, ab jetzt hast du mit Glück noch 20 richtig gute Sommer.
Dieser Blitz der Erkenntnis flasht heiß durch meine Synapsen und lässt mich aufheulen wie eine Wölfin. Ab jetzt ist das Leben endlich. Ich bin geschockt, paralysiert. Im Antlitz der noch verbleibenden Zeit fühle ich mich in die Knie gezwungen. Es raubt mir kurz die Luft zum Atmen.
So klingt Chaos und Drama.
Die nächsten Tage sind kein Spaß. In mir geht es drunter und drüber. Elendige Diskurse werden geführt. Nicht, dass diese mir komplett neu wären. Aber so hitzig war die innere Diskussion noch nie. "Verdammt, ich will noch so viel", bäumt sich die Amazone in mir auf. "Wie soll ich das schaffen", jault mein Jammer-Ich. "Das ist nicht zu schaffen. Nicht in 20 Jahren", exakt bringt es die innere Controlling-Chefin auf den Punkt. "Tja, hättest du dich mal eher angestrengt, jetzt hast du es zu nix gebracht", eisig versetzt mir die Gnadenlose den Todesstoß. Und so weiter und so fort.
Das Lamenti geht mir allmählich auf die Nerven. Zeit für die Regie.

Kreativer Garten und Friedhof der Träume.
Ich ziehe mich auf einen stillen Platz in den hinteren Reihen zurück. Beobachte das Theater. Konzentriere mich aufs Atmen. Spüre mich. Bin einfach nur da. Kein Ende, kein Anfang, panta rhei, alles fließt. Die 60 hat scheinbar auch gute Aspekte. Gelassen blättert die Erfahrung einfach eine Seite weiter. Szenenwechsel.
Ich schlendere durch den blühenden Garten meiner kreativen Ideen. Ich spüre, es ist Zeit, Abschied von Projekten zu nehmen, die schon viel zu lange vor sich hinwuchern. Aber ich liebe meinen Wildwuchs. Wie kann ich mich beschneiden, trennen, ohne unter der Enge zu erstarren? Unter einem Baum finde ich einen Grabstein. 'Sabines Buch' geboren 1973, gestorben… Ich schlucke. Es schmeckt bitter. Geht Leben ab jetzt so?

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Hermann Hesse
Rasant geht es auf meinen Geburtstag zu. Am liebsten würde mein Verpisser-Ich abhauen. Aber in einer kurzen manischen Phase, habe ich Menschen, die mir am Herzen liegen, eingeladen. "Was wünschst du dir?", fragen sie. Ja nun, was wünscht man sich, wenn das das Haltbarkeitsdatum bald überschritten ist...?
Einatmen, ausatmen. Slowmotion. Einen Wimpernschlag lang, sehe ich mich dort am Ende des Weges stehen und erhasche aus Distanz einen Blick zurück. Plötzlich bin ich auf der richtigen Spur. Wie 'Scotti, beam me up', reißt es mich aus der Lethargie. Kaskaden von Fragen prasseln wie ein erfrischender Wasserfall auf mich herab. Was ist mir wichtig? Was bedeutet mir viel? Wie will ich leben? Wer bin ich? Im Bauch kribbelts, mein Herz klopft wild. Puzzleteile meines Lebens surfen im Zeitraffer durch mein Gehirn. Wild, bunt und aufwühlend tief fügt sich alles zusammen. Die Tür zu meinem Herzen geht wieder auf. Und endlich, endlich erkenne ich den brilliant, glitzernden roten Faden darin.
Mein Gelübde an die Liebe.
Ab jetzt ist alles absurd einfach. Tief in meinem Herzen wusste ich es immer. Mein Leben war und ist die glühende, vertrauende, unschuldige Hingabe an die Liebe ohne Garantie auf Gewinn und Erfolg. Von begeisterter Schaffensfreude bis hin zur bodenlosen Betrübnis bekommt alles einen Sinn, wenn ich das Motiv Liebe addiere.
Das klingt pathetisch? Ist es nicht. Im Gegenteil. Es ist ab sofort mein äußerst effektives Sieb, das sämtliche Entscheidungen komplett vereinfacht. Alles, was ich liebe bleibt, alles andere fällt ab sofort durch. Sagt mein Herz ja oder nein? Ab sofort sind Zweifel und Widerstand nichts was zu bekämpfen ist, sondern meine Sensoren für Unstimmigkeit. Es gibt kein das mache ich nicht mit und dann mache ich es aus Pflichtgefühl doch. Zu solchen verdrehten Kapriolen habe ich keine Zeit mehr. Außer, sie machen richtig Spaß.

Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst. Die Herzogin, Alice im Wunderland
Drei Wochen nach meinem Geburtstags-Selbsterkenntnis-Prozess.
Das ist das phantastische ab 60: Du hast wirklich Übung, kennst alle Tricks, um Deine Fähigkeiten neu zu kombinieren. Du bist nicht mehr auf der Suche nach dem perfekten Studiengang, musst nicht mehr die perfekte Mutter, Liebhaberin oder die perfekte Karriere hinlegen. Du darfst genial unperfekt sein, weil es scheißegal ist wie Du bist. Hauptsache, Du liebst Dich, wie Du bist. Und die, die Du liebst, lieben Dich automatisch zurück. Sie können gar nicht anders wegen der Spiegelneuronen im Gehirn.
Ich erlaube mir, konsequent wahrhaftig zu sein. Was das heißt? Nun, zum Beispiel muss ich kein Blabla aushalten. Smalltalk? Ich dreh mich um, und rede mit jemandem, der keine Angst hat, authentisch zu sein. Ich erlaube mir, auf meine einzigartige, unprätentiöse, unperfekte Art ICH SELBST zu sein. Ich erlaube mir, das zu sein, was ich vor Jahrzehnten auf der Suche nach mir selbst schon fabelhaft formuliert habe: I am the warm shining sun und ich bin eine vom Herzen strahlende, kraftvolle Frau.
Und, ich erlaube mir ab jetzt, das, was ich schreibe, zu veröffentlichen. Nein, kein Buch. Oder doch? Wenn es mich packt und ich es liebe, wer weiß. Zur Schriftstellerin braucht es so große Liebe zum geschriebenen Wort, dass es ausreicht für die Zeiten, die Disziplin erfordern. Da müsste es mich schon sehr packen. Aber ich liebe es, Sätze zu formen, mit Worten zu spielen und so lange zu experimentieren, bis sich das was ich ausdrücken möchte richtig anfühlt. Egal, ob es jemand liest. Es dient nur meiner Freude, meinem Frieden, Frohsinn. Einfach, um mir zu erlauben ICH zu SEIN.

Autorin: Sabine Rothländer, Coach, Trainerin & Autorin für persönliche Entwicklung. Initiatorin der Heartbiz-Coaching- und Retreatprogramme. www.heartbiz.de
Comentarios